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Der chinesische Politiker Zhou-Enlai soll um das Jahr 1970 gesagt haben, es sei noch zu früh, die Bedeutung der Französischen Revolution von 1789 zu beurteilen, eine der Geburtsstunden demokratischer Staatenbildung. Dass Menschen altern und sterben wissen wir. Doch auch ganze Staatengebilde können gebrechlich werden bis zur Auflösung.

Im jugendlichen Alter habe ich Musik von den Pet Shop Boys gehört. Sie veröffentlichen heute immer noch Aktuelles, kürzlich ein Stück mit dem Titel Kaputnik. Der Forschungszweig, welcher sich mit dem Verschwinden ganzer Staaten beschäftigt, heißt Kollapsologie.

Je älter ein Mensch wird, desto höher ist das Risiko, zu erkranken oder zu sterben. Den Statistiken nach steigt die Sterblichkeit des Menschen bis zum Alter von 80 Jahren mit exponentieller Dynamik an.

Forscher von der Universität Wageningen in den Niederlanden haben bei Staaten nun einen ähnlichen Prozess der Erschlaffung festgestellt. Auch Gemeinwesen altern bis zum Kollaps. Das schlossen die Forscher aus einer Analyse untergegangener Reiche. Nach ca. 200 Jahren ist das Risiko eines Zusammenbruchs am höchsten. Das individuelle 80 ist also das neue gemeinschaftliche 200! Gemeinwesen werden mit fortschreitendem Alter gebrechlich wie der Mensch.

Dazu werteten die Wissenschaftler Daten zu mehr als 600 historischen Gemeinwesen aus, in einer Zeitspanne zwischen 2000 vor Christus und 1800 nach Christus. Sie stießen auf ein Muster: Gegründet und dann später untergegangen nach immer schwieriger werdendem Verlauf von jeweils ca. 200 Jahren. Die nach der Gründung noch jungen Gemeinwesen seien stabil, als verfügten sie über eine Art Bonus der Jugendlichkeit. Wenn dann Staaten älter werden, reduzieren sich die Fähigkeiten, adäquat auf Katastrophen, Invasionen und andere Herausforderungen zu reagieren.

Wir wissen, der menschliche Körper benötigt mit fortschreitendem Alter mehr Zeit, um sich von Verletzungen zu erholen. Und auch Staaten brauchen gleichsam lange, um nach Krisensituationen wieder zur Normalität zurückzukehren. Der Alterungsprozess beschleunige sich im Laufe von zwei Jahrhunderten; in dieser Zeit steige das Risiko, dass ein Staat untergeht. Und diese Steigerung verlaufe ebenfalls in exponentiellen Schritten.

Es sind verschiedene Effekte, die Staaten altern lassen. Etwa zunehmende Umweltschäden wie Abholzung oder Erosion der Böden nach intensiver Nutzung. Auch die Folgen von Überbevölkerung, Invasionen von außen, gehören zu den Effekten. Zudem Ungleichheit, immer komplexer und dadurch anfälliger werdende Formen der Organisation und Institutionen, welche dem Ende zu nur noch dem eigenen Selbstzweck dienen. Auffällig sind Entscheidungen, die nicht mehr im Interesse aller sind, sondern lediglich zum Wohle nur noch weniger, sozusagen allein zugunsten einer Elite weit oben.

Eine Frage drängt sich auf: Ob es auch in unseren Gemeinwesen bereits Anzeichen eines drohenden Zusammenbruchs gibt. Und die Frage, wie lange das noch gut geht?

Auffällig bis zur Hinfälligkeit sind die Parallelen der mit fortschreitendem Alter immer störanfälligeren Zellen im menschlichen Körper zu den zunehmenden Ansprüchen und dem dekadenten Gebaren, diesem Gewese unzähliger Bevölkerungszellen in Humangestalt innerhalb der Körperschaften. So sei es dann gewesen: Quod erat demonstrandum.

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Vor kurzem wurde an Loriot erinnert. Anlass war in memoriam sein 100. Geburtstag. Ein Begriff, der in dem Andenken auftauchte, war jener der Distanz.

Loriot war Humorist. Humor hat seinen Ursprung in der Tragik des Lebens. Wer in einem tragischen Zustand lebt, wird diese Tragik als Last und Bürde empfinden. Dann hilft es, zurückzutreten und sich selbst aus einer gewissen Entfernung zu betrachten. Denn solange man in seinem eigenen Kokon gefangen ist, hat man keine Freiheit. Keine Freiheit zu genießen. Keine Freiheit sich zu freuen. Kurz, keine Freiheit zu leben.

Psychotherapeuten verhelfen im professionellen Gewese zur Distanz. TV-Loriot, den kennt man auf einem Sofa sitzend. Bei ihm gab es keine Zufälle - zumindest hat Loriot sich bemüht, diese wie sonst nur Fettnäpfchen zu umgehen. Loriot war Künstler, sein anderes Ich Bernhard-Viktor „Vicco“ Christoph-Carl von Bülow ein akribischer Handwerker. Er brauchte keine künstlichen Armlehnen, denn er besaß eine bürgerliche Rückenlehne. Sein Sofa, aufrecht sitzend, nicht flattrig liegend, war eine Anspielung an die Therapeuten Couch und den in seinem Elendssud weinerlich darniederliegenden Menschen, der aufgrund einer wechselnden Blickrichtung – und das ist ironiefrei ausschließlich positiv gemeint – sogar zur Lachnummer seines Lebens werden kann.

Distanz also!

In allen Sketchen, Cartoons, auch in seinen beiden Spielfilmen ist es vorhanden, dieses Seht es doch mal anders. Loriots humorvolle Sichtweisen fußen auf Abstand.

Und da gibt es zusätzlich noch seine Komik 2.0. Loriot hat uns, den Zuschauern, den Spiegel vorgehalten, regelmäßig von uns unbemerkt. Oder wir haben es missverstanden in dem Sinne, dass wir nur den anderen, aber nicht uns selbst erkannten. Was wiederum urkomisch ist, denn man lacht, entlarvt vom anderen, über sich selbst, meint aber dabei diesen anderen, den man gerade verlacht, zumindest ignoriert, schlimmstenfalls beschimpft und denkt dabei vor allem doch nur an sich, in der Missachtung seines Gegenübers bei konstant fehlender Empathie und dem Verlust der eigenen Spiegelneuronen.            

????   ___   ;-);-);-);-)

P.S.: Loriots wegsichtige Ansichten, helfen auch, nicht selbstgerecht, sondern im Ausgleich und Gleichklang zwischenmenschlich zu kommunizieren. Um das aneinander Vorbei- und überfallartige Überreden einzuhegen. Nicht: „Hermann? – Ja! - Was machst Du da? – Nichts! – Nichts, wieso nichts? - Ich mache nichts! - Gar nichts? – Nein! – Überhaupt nichts? – Nein, ich sitze hier! – Du sitzt da? – Ja. - ……“

Und ich schreibe hier und höre jetzt auf (ausnahmsweise bis zum nächsten Freitag, den 8. Dezember), dem anderen mit Aufmerksamkeit zu.

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Das Ideal demokratischer Praxis ist die Politische Wahrhaftigkeit. Transparenz und Authentizität sind Grundlagen der demokratischen Gesellschaft. Nicht zum Kern demokratischer Identität gehören: Kalkulierte Unaufrichtigkeit, Manipulationen und Propaganda. Zu Lügen - Brockhaus-Definition: gegen das bessere Wissen mit der Absicht zu Täuschen verbundene Unwahrheiten - gehören auch Zweideutigkeiten, Verstellung, Wortbrüchigkeit. Alles Formen der Verleitung zum Irrtum, wie es förmlich heißt.

Die Sprache von Donald Trump, ganz anders: Im Bemühen, für das kommende Jahr genügend Wähler für sein Präsidentschaftscomeback zu gewinnen und beim Versuch, sein Niveau auf seine Wähler zu übertragen oder es mit ihnen zu teilen, hat der Expräsident ein weiteres Mal verbale Tabus verletzt und Ekel-Sprachhürden eingerissen.

Denn inzwischen verwendet er eine faschistoide Rhetorik. Er sprach davon, dass er Ungeziefer im Land ausrotten werde. Er meinte „Kommunisten, Marxisten, Faschisten und linksradikale Gangster“. Mit Ausnahme der „Faschisten“ ist sein Redeinhalt nicht mehr von Reden aus der Nazi-Zeit von vor achtzig, neunzig Jahren zu unterscheiden. Sein Getöse lässt befürchten: Er meint es ernst.

Die Nationalsozialisten hatten die rhetorische Entmenschlichung ihrer Gegner in ihrer Propaganda sehr professionell vorangetrieben. Sie sorgten für die Übertragung der Begriffe aus der Biologie auf die Gesellschaft, um so in der allgemeinen Wahrnehmung eine Rangordnung zu etablieren, von Menschen und sogenannten Untermenschen. Durch die dauernde Wiederholung der Bezeichnung Ungeziefer für Juden, und auch für Regimekritiker jeglicher Couleur, sollten Tatsachen und eine Wirklichkeit geschaffen werden, dass diese gebrandmarkten Menschen keine Menschen seien. So bereitet man Menschheitsverbrechen vor und sorgt für deren Rechtfertigung bei späterer Ausführung.

Für Trump scheint das Vorgehen nationalsozialistischer Täter eine Blaupause für seine Zukunftsagenda zu sein. Und er hat mit seinen jüngsten Äußerungen nicht nur eine neue Stufe der rhetorischen Eskalation betreten.

Mittlerweile erklärt er auch, er wolle den amerikanischen Rechtsstaat beseitigen. Die Zerstörung von demokratischen Institutionen ist somit rhetorisch vorbereitet. Wer das nicht ernst nimmt, ist geschichtsvergessen und realitätsblind. Trump reiht sich in die Kontinuität vieler Autokraten und Tyrannen ein. Diese kündigen sehr präzise und in aller Deutlichkeit das an, was sie später im Amt ausführen werden. Wer Trump wählt, wer ihn auch nur für vorbildlich (v)erklärt, muss ihn beim Wort nehmen und sich nicht wundern, wenn seinen Worten Menschheitsverbrechen folgen.

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Unter dem Begriff Ressentiment versteht man die auf Vorurteilen, aber auch auf Unterlegenheitsgefühlen, sowie Neid und auf ähnlich vorherrschenden Emotionen beruhenden Abneigungen gegen andere Personen - in Disharmonie mit der Um- und Lebenswelt.

Der Autor Thomas Gutknecht erkennt in Ressentiments Phänomen eine Selbstvergiftung der Seele, hervorgerufen durch Kränkungs- und Ohnmachtserfahrungen. Das Buch dazu: Mut und Maß statt Wut und Hass

Angeregt von der Lektüre die folgenden Sätze, eher zusammenhangslos, ohne Verbund. Der Hinweis, dass sich nicht nur die Psychologie, sondern auch die Sozialpsychologie mit dem Phänomen beschäftigt, denn auch ganze Bevölkerungsgruppen können Ressentiment aufgeladen sein.

Immer glaubt ein Mensch/eine Gruppe mit Ressentiments moralisch im Recht zu sein. Das Spießbürgerrecht lässt grüßen! Aus diesem Recht heraus glaubt er/ glauben sie andere miss- und verachten zu können.

Der Mensch erlebt im Zusammenhang mit Ohnmacht und Ungerechtigkeit eine Kränkung. Das Ressentiment braucht den Gegenspieler.

Aus der Schwäche, deren Ursache die erlittene Kränkung ist, folgt eine eigens konstruierte moralisch „starke“ Position, welche erlaubt, andere Sachen, Dinge und Mitmenschen zu kritisieren, zu verachten, mit Nichtbeachtung zu begegnen.

Thomas Gutknecht spricht in seinem Buch auch von Ressentimentalität. Diese Wortschöpfung aus der Zusammenführung der Wörter Ressentiment und Mentalität bezeichnet eine Einstellung, die zu einer Haltung führt, welche die ganze Person umfasst, also die Gedanken, Verlautbarungen, Meinungen, Kommentare,…, auch die gesamte Körpersprache ist von dieser Geisteshaltung bestimmt.

Einige vom Ressentiment Getriebene sitzen still, privat in einer Ecke mit einem Gesichtsausdruck der Überlegenheit, schmallippig mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Andere, das sind auch die öffentlichkeitswirksamen Wutbürger.

Ressentiments entwickeln eine enorme Sprengkraft. Der Ressentiments-Gemütszustand kann wachsen und gedeihen, wenn Menschen sich gekränkt, auch über allen Maßen ohnmächtig fühlen.

Zeit kann Wunden heilen. Manchmal aber auch nicht. Dann steigert sich das Gefühl der Kränkung, wird stärker und stärker. Ein schleichender Prozess der Vergiftung beginnt. Und diese schleichende Vergiftung bewirkt, dass die Seele immer mehr in jene Untiefen versinkt, wo Häme, Neid und die Sehnsucht, andere abzuwerten, die Hoheit der Gefühle in Besitz nehmen. Selbstvergiftung der Seele - diesen Begriff hat der Philosoph und Soziologe Max Scheler (1874 – 1928) geprägt.

Freudlosigkeit ist damit verbunden. Keine Freude, keine Fröhlichkeit. Und den anderen gönnt man die Freude auch nicht. Was bleibt dann vom Leben noch übrig? Es bleibt die seelische Vergiftung. An die Stelle der Lebensfreude tritt das Leiden. Es kommt zu einem Leben, geprägt vom seelischen Schmerz. Das Leid ist empfundenes Leid, bedingt von allem möglichen, nur nicht - trotz allem Ich-Sagens – selbstursächlich.

Andererseits, der Schmerz, der gibt mir eine gefühlte Überlegenheit anderen gegenüber, eine moralisch legitimierte, selbstgerechte Haltung zur Verachtung. Das muss nicht immer, kann aber bis zu einer hasserfüllt wütenden Verachtung führen. Immer vorhanden ist eine Wahrnehmungsverzerrung der eigenen Umwelt und gegenüber den Mitmenschen. Leben in einem Tunnel der Illusionen mit gleichnamigen Blick nach draußen.

Vom Ressentiment getriebene Menschen verwenden viel Kraft darauf, ihre Haltung zum Leben nicht in Frage zu stellen. Menschen mit starken Ressentiments fühlen sich immer als Opfer. Das gibt ihnen ein Jammerrecht – anatomisch erkennbar an dem im Oberstübchen zu verorteten Jammerlappen. (Wer meint betroffen zu sein, der Ratschlag: Rasch um eine MRT-Bildwiedergabe dieser höhernäsigen Corpusregion bemühen!) Schuld an der eigenen Lebenslage sind sowieso immer die anderen, mit der Irrlicht Einschätzung, nichts an der eigenen Lebenslage aus eigenem Antrieb ändern zu können.

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Freiheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Eine auf Freiheit ausgerichtete Gesellschaftsordnung ist die Voraussetzung für eine demokratische Staatsform. Ohne ein Bündel von Freiheitinstrumenten funktioniert auch der soziale Ausgleich nicht. Individuelle Freiheit, rechtsstaatliche Gleichheit und solidarischer Gemeinsinn sind die Basisbedingungen, dass Demokratien existieren und überleben können.

In einer Autokratie, in einer Diktatur, steht die alleinherrschende Person/ Machtclique an der Spitze – das beherrschte Volk, ohne Recht auf Mitsprache und rechtsstaatlich abgesicherte Autonomie, Besitz, Eigentum. Dies Gesellschaftsmodell hat nur einen Sinn und eine Ideologie: Die Macht selbst und den Kampf um sie. Seine einzig notwendige und hinreichende Existenzbedingung ist die Gewalt. Lebensmotto hier: Denke, was du willst, tue, was man dir sagt, versuche, irgendwie zu überleben. 

Albert Schweitzer (1875 -1965) hat über die individuelle Freiheit das Folgende geschrieben:

Ich will unter keinen Umständen ein Allerweltsmensch sein. Ich habe ein Recht darauf, aus dem Rahmen zu fallen, wenn ich es kann. Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheiten. Ich will kein ausgehaltener Bürger sein, gedemütigt und abgestumpft, weil der Staat für mich sorgt.

Ich will dem Risiko begegnen, mich nach etwas zu sehnen und es zu
verwirklichen, Schiffbruch zu erleiden oder Erfolg zu haben. Ich lehne es ab, mir den eigenen Antrieb mit einem Trinkgeld abkaufen zu lassen.

Lieber will ich den Schwierigkeiten des Lebens entgegentreten als ein gesichertes Dasein führen; lieber die gespannte Erregung des eigenen Erfolges als die dumpfe Ruhe Utopiens.

Ich will weder meine Freiheit gegen Wohltaten hergeben noch meine Menschenwürde gegen milde Gaben.

Ich habe gelernt, selbst für mich zu denken und zu handeln, der Welt gerade ins Gesicht zu sehen und zu bekennen, dies ist mein Werk.

Ich bin ein freier Mensch.

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Killing by kindness ist emotionale Bullshit-Arbeit. Die Fassung wahren. Nicht zurückschimpfen. Immer professionell bleiben bei der Arbeit. Lächeln in Situationen, wenn es innerlich brodelt. Diese unbemerkte Bullshit-Arbeit ist auch hochgeschult und hat einen wissenschaftlichen Namen bekommen. Die US-Soziologin Arlie Russell Hochschild bezeichnet sie in einer Studie über die stets zum Lächeln verpflichteten Dienstleister als Emotionsarbeit. Bezeichnung einer unbeachteten Arbeit, welche z.B. in Berufen mit viel Kundenkontakt abverlangt wird.

Einer Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zufolge, muss etwa ein Viertel der abhängig Beschäftigten in Deutschland häufig oder sehr häufig die wahren Gefühle am Arbeitsplatz verbergen. In Gesundheitsberufen ist der Anteil derjenigen, die ihre Gefühle oft verbergen müssen, mit 44 Prozent besonders hoch.

Man könnte sagen: Millionen Menschen erledigen Tag für Tag parallel noch einen Zusatzjob als Schauspieler. Dieser ist nicht ausdrücklich vorgesehen, steht in keinem Arbeitsvertrag. Denn in der Regel gilt die Berufswelt als ein von Emotionen freier Ort. Man wurde eingestellt fürs Verkaufen, Verwalten, Sachbearbeiten, Texteschreiben. Nur, seine Gefühle gibt man nicht einfach am Eingang ab, wenn man den Arbeitsplatz betritt. Hinter einer professionellen Fassade sind sehr oft intensive Gefühlsregungen verborgen: Wut-Unterdruck, Frust-Schluck, Kränkungs-Beschuss. Gefühle sind auch im Job keine Privatsache. Sie spielen eine Rolle, über die bei der Arbeit jedoch in der Regel nicht kommuniziert wird.

Die Ökonomin Daniela Rastetter von der Universität Hamburg spricht von emotionalen Dissonanzen, wenn das erlebte Gefühl nicht mit dem im Job verlangten Gefühl übereinstimmt. Gefühle sind Privatsache, heißt es. Virulent auch im Job, können Gefühle krank machen, wenn sie weggesperrt werden.

Bullshit-Arbeit Variante: Die Zunahme von Nonsens-Aufgaben in der Arbeitswelt. Jobtätigkeiten, die so überflüssig und gesellschaftlich irrelevant sind, dass dies selbst die Betroffenen merken, wenn sie ausgeführt werden. Das gilt auch für eine emotionale Mehrbelastung, wenn Tätigkeiten noch selbst moderiert werden müssen. Gemeint sind die Evaluierungsmaßnahmen von Arbeitsschritten, unter Strafdrohungen eingefordert von einer maßlosen Bürokratie, die der Arbeit nicht hilfreich zur Seite steht, sondern im Übereifer behindert: Trippelschritt statt Sauseschritt. Stichwörter sind hier Antragsfülle, Formularflut, Verordnungshybris. Ganz ohne Arbeitskollegen vis-à-vis: Man (k)nickt vor sich hin und belächelt den Schwachsinn. Mit Schaden und Freude gespielt, gerade doppelt gemoppelte Bullshit-Arbeit geleistet zu haben.

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Warum setzen sich liberal gesinnte Demokraten nicht ausreichend zu Wehr? Vielleicht, weil wir allesamt in Komfortdemokratien leben.

In diesen Tagen hört man vermehrt die Verlautbarung: “Nachrichten gucke ich nicht mehr - das ist mir alles zu viel.“ Nachrichten wohlgemerkt. Hingewiesen wird auf Informationen der TV-Programme, der Radiosender, der Printmedien. Die Leute meinen nicht von den sozialen Medien verbreitete Gewaltvideos.

In einer funktionierenden Demokratie herrscht ein Gleichgewicht zwischen den Pflichten des einzelnen und den an den Staat adressierten Ansprüchen. Dieses Gleichgewicht ist aus dem Lot geraten. Denn in den Komfortdemokratien, gemeint sind hier die westlichen Demokratien, hat sich das Gewicht hin zu den Ansprüchen verschoben, während die Pflichten gleich Fällen von Demenz vergessen werden. Ansprüche werden zu Ansprüchen mit Garantiestatus erhoben. So zum Beispiel Hilfsleistungen und Investitionen in allumfassende Sicherheit, Wohlstandsausgleich bei jeder Krise, Unversehrtheit aller Art, ins Gießkannen-Prinzip allerorts.

Und es mehrt sich die Anzahl der Menschen, welche die demokratischen Freiheiten für selbstverständlich halten, diese geradezu einfordern in dekadenter Nehmerhaltung, unduldsam. Die Unverfrorenheitsskala reicht mühelos bis zu jenen, die den demokratisch verfassten Rechtsstaat ausnutzen. Sie unterstützen dann die Gegner der liberalen Demokratien, statt das freie, zivile Leben wertzuschätzen. Nicht Russlandkenner, aber Putin-Versteher gehören dazu.

In einer Demokratie - das ist ihre Stärke und das ist auch ihre Schwäche - steht das den Menschen frei. Sie können - beim Beispiel bleibend - von Methoden der Repression und autokratischen Modellen überzeugt sein und diese dann propagieren: Wort und Tat müssen nur in einem rechtstaatlichen Rahmen verbleiben.

Eine Demokratie, um bestehen zu können, braucht wehrhafte Solidarität und den Gemeinsinn der Mehrheitsgesellschaft. Das ist gemeine Pflicht, Gegenteil des Wegschauens. Die staatsbürgerliche Verpflichtung als beleidigend gefühlte Nötigung, als Zumutung aufzufassen, führt zur Wohlstandsverwahrlosung der demokratisch verwöhnten hiesigen Massen. Und symbolträchtiger Gratismut nützt niemanden.

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Die Demokratien werden weltweit herausgefordert und bedrängt wie selten zuvor. Der Autor und Politikwissenschaftler Claus Leggewie appelliert an alle demokratisch gesinnten und in Demokratien lebenden Menschen: „Raus aus der Komfortzone!“. Wir müssten uns jetzt zur Wehr setzen. Es wird viel über das Ende der Demokratien geredet und geschrieben. Was hingegen zu tun ist, davon erfährt man unverhältnismäßig wenig.

Kürzlich wurde auf eine Möglichkeit hingewiesen, wie eine Gegenwehr aussehen könnte. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) machte auf Artikel 18 des deutschen Grundgesetzes aufmerksam. In Artikel 18 ist die sogenannte Grundrechtsverwirkung festgelegt. Sie regelt ein Sanktionsinstrument, wenn Grundrechte missbraucht werden. So verliert eine Person das Recht auf politische Aktivität, das Recht, sich auf die Grundrechte zu berufen, wenn diese Grundrechte zweckentfremdet werden. So ein Missbrauch liegt dann vor, wenn eine Person nachweisbar in Worten und Taten öffentlich verkündet, das demokratische Rechtssystem zerstören zu wollen.

Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes hat die im Artikel 18 formulierte Verwirkung der Grundrechte einst so begründet: Man müsse die politischen Freiheiten denen versagen, „die nichts anders wollen, als mit Hilfe dieser Grundrechte den Geist dieser Verfassung zu benagen oder ihm das Lebenslicht auszublasen“.

Mit der Anwendung von Artikel 18 würde den Verfassungsfeinden, einzelnen Personen, das Recht zur politischen Aktivität genommen. Konkret hieße das, das aktive und passive Wahlrecht würde aberkannt und die Erlangung sowie das Ausüben öffentlicher Ämter würde ihnen verwehrt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Dieses Vorgehen kann wirkungsvoller sein als das in der Öffentlichkeit in der Diskussion stehende Parteienverbot nach Artikel 21 des Grundgesetzes, so die SZ.

Eine Anklage aufgrund Artikel 18 des Grundgesetzes ist eine hohe Hürde. In jüngster Vergangenheit haben jedoch Verwaltungsgerichte über rechtsextreme Politiker geurteilt, die durch stetige Verlautbarungen radikalen Gedankenguts, mit Begriffen wie Faschist oder Neonazi in aller Öffentlichkeit von jedermann rechtens benannt werden dürften, da Auseinandersetzungen in der Sache, so das Argument der Urteile, vorlägen. Und eben keine Rufschädigungen oder Schmähkritiken. Sollten in Zukunft diese Zuschreibungen wieder ehrenhaft und lobgepriesen aufgepelzt werden, dann allerdings wird es zu spät sein.

„Ein Verfassungsstaat soll und darf sich nicht in die Hände seiner Zerstörer begeben.“ (SZ)

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In New York City leben eineinhalb Millionen Juden. In keiner Stadt auf der Erde, einschließlich Tel Aviv und Jerusalem, leben mehr Menschen jüdischen Glaubens. Und außerhalb Israels ist es die größte zusammenhängende jüdische Gemeinde.

David Ingber (d.i.) ist Rabbiner in Manhattan.

Michelle Dardashti (m.d.) mit iranischen Wurzeln ist Rabbinerin.

Ebenso Angela Buchdal (a.b.), ursprünglich aus Südkorea kommend, ist nach New York eingewandert.

In Israel geboren ist der Rabbiner Amichai Yehuda Lau Lavie (a.l.), auch er ist New Yorker.

„Ich glaube, dass wir künftig von einem Israel vor dem 7. Oktober sprechen werden und von einem danach. Und Gleiches gilt für das Judentum insgesamt, also auch für uns hier in New York. Es wird von nun an ein Vorher und ein Nachher geben.“ (d.i.)

„Es ist, als hätten sich die Kathedralen des Wissens und des Liberalismus (gemeint sind die Universitäten) gegen uns gestellt. Das ist ein furchtbares Gefühl, denn wenn die Institutionen des Geistes nicht verstehen, was wirklich passiert ist, wer dann?“ (d.i.)

„Das ist nicht bloß ein bisschen Antisemitismus hier und da. Es passiert gerade etwas Größeres, und das ist ebenso gefährlich wie beängstigend. Ich habe nie zuvor in meinem Leben das Gefühl gehabt, dass die jüdische Gemeinschaft sich so verletzlich fühlt, so aufgewühlt, so wütend und zugleich verängstigt und isoliert.“ (a.b.)

„Im Jahr2000 kandidierte der Politiker Joe Liebermann als Vizepräsident der USA, als erster Jude. Juden waren so sichtbar. Und ich habe wirklich gedacht, die Zeit des Antisemitismus sei damit vorbei. Das geschieht jetzt im Amerika des Jahres 2023. Und da muss man fragen: Was passiert hier gerade?“ (a.b.)

„Ich bin niemand, der Israel blind und unkritisch verteidigt. Ich bin für die Rechte der Palästinenser, man kann sogar sagen: Ich bin pro Palästina. Ich verneine keineswegs, dass die Palästinenser Unterdrückung und Ungerechtigkeit erlebt haben. Aber das rechtfertigt nicht, unschuldige Menschen abzuschlachten. Und es rechtfertigt auch nicht, diese Terroristen als Freiheitskämpfer darzustellen.“ (a.b.)

„Wir Juden befinden uns derzeit gewissermaßen auf einer Arche. Und wir wissen nicht, wie lang die Flut dauert und was uns erwartet, wenn sie vorbei ist. Sicher ist nur, dass es uns massiv verändern wird.“ (m.d.)

„Ich bin gekommen, um allen zu sagen, dass ich bei ihnen bin, dass sie nicht allein sind. Das gilt auch für meine palästinensischen Freunde. Wo sind in New York die Freunde? Wo sind die Verbündeten? Wo sind die Menschen in dieser Stadt, die sagen, es ist kompliziert, wir wissen das, aber was können wir tun, wie können wir helfen? Ich wünschte, die Menschen hätten mehr emotionale Intelligenz im Umgang mit so einer Krise, statt in einer Art zu handeln, die anderen wehtut.“ (l.l.)

„In Israel haben wir im Moment keine weitsichtige Führung, die uns in eine sicherere Welt führen wird. Dabei müssten wir strategisch und diplomatisch fünf Schritte im Voraus denken, zehn Schritte. Wie können wir Freundschaften aufbauen, die einen weiteren Krieg verhindern? Das ist keine Frage, die wir in der jetzigen Lage rasch beantworten können, aber ich kann im Namen vieler meiner palästinensischen und vieler meiner israelischen Freunde sagen, dass wir genau daran arbeiten müssen.“ (l.l.)

„Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir den Konflikt gar nicht lösen müssen. So wie Leugner des Klimawandels glauben, es werde ihnen selbst nichts Schlimmes passieren. Vielleicht haben wir uns unter einer Art Schutzschild versteckt, statt der Realität ins Auge zu schauen. Jetzt ist das Schlimmste passiert, und es ist klar, dass wir eine Lösung finden müssen.“ (m.d.)

„Was damals unter den Nazis passiert ist, war so unbegreiflich schrecklich, dass es in vielen Teilen der westlichen Welt danach keinen Antisemitismus mehr gab. Zumindest äußerte sich niemand mehr öffentlich in diesem Sinne. Jetzt aber sind die meisten Überlebenden tot oder sehr, sehr alt, und vielleicht führt das dazu, dass gewissermaßen die Impfung abläuft. Dass das Geschwür des Antisemitismus wieder wächst.“ (a.b.)

„Ein Trauma wird erst wirklich schlimm, wenn man in der Folge die fundamentalen Überzeugungen verliert, auf denen man sein Leben gründet. Als Jüdin, als Rabbinerin und als Mensch glaube ich weiterhin daran, dass die Menschen im Grundsatz gut sind. Und ich glaube immer noch, trotz allem, dass die Welt prinzipiell ein guter, ein sicherer Ort ist, und dass sie eine Ordnung hat.“ (a.b.)

χρ τ + _ 66

Eine Demokratie, das politisches System braucht den Konservatismus und es braucht konservative Menschen, damit Stabilität gewährleistet ist. Unabhängig von einem ausbuchstabierten Parteiprogramm sind dem zum Konservatismus neigende Menschen an diesen Haltungen erkennbar: Sie vermeiden Veränderungen und haben ein Bedürfnis nach grundsätzlicher Kontinuität in allen möglichen Lebenslagen.

Das gilt für den gesellschaftlichen und für den politischen Bereich. Gewohnheiten, Routinen und Lebenspläne werden sinnigerweise mit dem Phänomen Trägheit assoziiert. In einer möglichst zäh dahinfließenden Wirklichkeit soll es ruhig zugehen und ruhig bleiben.

Nun leben wir seit einiger Zeit nicht mehr in ruhigen, unbewegten Zeiten. Früher war alles besser. Ja, dieser Aussage kann inzwischen nahezu jeder zustimmen. Und das Gefühl Um-der-guten-alten-Zeiten-wegen beunruhigt veränderungsunwillige Leute ganz besonders. Sie sind aber auch in krisenhaften Zeiten rasch zu emotionalisieren und empfänglich für alles, auch für alles Ungute.

Dieses Potential (an Erregung) hat bereits ein Maß erreicht, wo Vernunft keine Rolle mehr zu spielen scheint. Die konservative und träge Masse wird einerseits in neue, Spielbällen ähnlichen Passivitätsformen geführt, andererseits zu einer manipulierbaren Anhängerschaft von nur Böses im Schild führenden Kräfte verführt.

Dem Konservativismus werden so Dinge aufgenötigt, die ihm eigentlich wesensfremd bis zuwider sind. Ein stetig verschärfender Prozess, der in seiner Trivialität unbegreiflich scheint. Ein Populismus von rechts peitscht den gemäßigten, programmatisch von Solide auf Zerstörung und vom Kopf auf die Füße gestellten Konservativismus vor sich her. Populisten Parole: Ängste verursachen, diese Ängste missbrauchen. Ein Menetekel von vielen beispielhaften Anzeichen drohenden Unheils: Der unter konservativ ethisch-moralischen Gesichtspunkten nur als Schmierfink zu bezeichnende 45. US-Präsident als Gallionsfigur der christlichen Fundamentalisten.

In nahezu allen westlichen Demokratien sind diese Perversionen zu beobachten. Es ist nicht nur ein Verlust des so wichtigen Prinzips Vertrauen. Diese zwischenmenschliche Tugend, im guten Sinne wertkonservativ, zerfällt.

Ein besonders beunruhigendes Beispiel, das sind, siehe oben, die Vereinigten Staaten von Amerika, wo große Teile der konservativen Partei und deren Anhänger inzwischen Ergebnisse von Wahlen anzweifeln, einen Umsturzversuch eines abgewählten Präsidenten gutheißen. Auch die Mitglieder der konservativen Parteienfamilie in Europa werden anfälliger, seien es die Tories in Großbritannien oder womöglich bald Brandmauer einreißende Christdemokraten in Deutschland.

Den Parteien und ihre Wähler, die sich weiterhin im politischen Spektrum Mitte-Rechts verorten, möchte man zurufen: Bleibt weiterhin konservativ!

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